Von HANS ROCHOL
1.) PROLOG
Wenn vor Zeiten Wind gegen Zement kickte, war die Oelder Moorwiese stets proppenvoll. Das Treffen der Oelder Fußballer gegen die Beckumer Elf mobilisierte Jungen und Männer mehr als jede Maiandacht. Worauf man wetten konnte: Zement gewann immer, oder wenigstens fast immer. Zement in Blau-Weiß wurde vertreten durch die Beckumer Jungs, Wind durch die schwarz-weißen Oelder. Wenn auch der Beckumer Zement nicht zu knacken war, die Hoffnung auf einen Oelder Sieg bestand zu jeder Zeit, und zum nächsten Treffen auf der Moorwiese kamen noch ein paar Besucher mehr.
Doch nicht die Moorwiese sah jenen denkwürdigen Sieg des SC Oelde 09, sondern das Wunder geschah auf der Römerkampfbahn der SpVg Beckum. Dabei ging es nicht nur um Freundschaft, sondern gleich um den DFB-Pokal. Dank eines überragenden Torwarts und eines von Zement „geborgten“ Spielers blieb Wind Sieger und durfte im nächsten Spiel gegen Schalke 04 ran. So ein repräsentativer Sieg bleibt lange im Gedächtnis haften, viel länger als tausend Niederlagen.
Beckum ist als Zementstadt bekannt. Aber warum ist Oelde eigentlich die Stadt des Windes? „Mein Heimatstädtchen ist bekannt … den Namen trug ins weite Land der lust’ge Oelder Wind…“ heißt es im Oelder Lied von Arnold Menne. Er war seinerzeit der Lehrer, Dichter und Komponist in Oelde. Mithin, Oelde hat mit Wind und Sturm einiges erlebt, nicht nur lustige Begebenheiten. Auch feuergefährliche und bedrohliche Episoden waren zu bestehen.
Menne spielt in seinem Text auf eine anrüchige Episode an. Sie hat sich in der Nacht von Sonntag, 29. März 1908, auf Montag, 30. März 1908, auf der Langen Straße sozusagen klangvoll und fortissimo abgespielt. Ein Kupferschmied (Bild), Geselle bei Uhrmeister, ließ einen (oder mehrere) fahren. Dafür sollte er blechen, weil sein unflätiges Verhalten der Polizei nicht gefiel. Die Pups-Orgie zwei Wochen vor Ostern hatte für Oelde beträchtliche Folgen.
Bier und Bohnensuppe waren Auslöser der lautstarken Geräusche und moderig-faulen Gerüche, die sich in Form von unkeuschen Winden auf der Langen Straße am Hotel zur Krone bemerkbar machten.

2.) HÖRST DU SEIN BRAUSEN?
Doch vom Oelder Wind kann man schon viel früher erzählen. Eine gewichtige Rolle spielt in der Oelder Stadtgeschichte die Taube, die in der Antike für Sanftmut und Liebe steht. Tauben gelten als geschickte und rasante Flieger, die mit Wind gut zurechtkommen können. Columba heißt dieser Vogel in der lateinischen Übersetzung. Columba wiederum ist der Name einer heiligen Märtyrin, die besonders in Sens (Frankreich) verehrt wurde.

Weil die Taube bei der Taufe Jesu durch den Täufer Johannes im Jordan als Heiliger Geist aufstrahlte, wurde sie zum Symbol des Heiligen Geistes. Oelde muss bei der Missionierung des Münsterlandes schon eine interessante Stelle gewesen sein, dass die ersten Missionare ausgerechnet diesem Ort am Bach Johannes den Täufer und die Jungfrau Columba als gemeinsame Patrone zuordneten.
„Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“, heißt es bei Joh 3,8. Der Wind ist in der Bibel mehr als eine Wettererscheinung. Ein treffendes Beispiel bietet der Psalm 104: „Gott macht Winde zu seinen Engeln.“ Wer sich den Wind um die Nase wehen lässt, bekommt oft genug himmlischen Beistand. Der wiederum versetzt in die Lage, Dinge auch mal aus anderer Perspektive zu betrachten.
Goethe lässt die Geister ausrufen: Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind!
3.) BEI HEFTIGEM WESTWIND
1800 war für Oelde das Brandjahr, offensichtlich steckte der Wind dahinter. Ein Bericht darüber sagt aus:
„Am 10. Oktober 1800 entstand des Nachmittags bei heftigem Westwinde in dem damaligen an dem Rathausbache belegenen Kramerschen Hause, (das erste Haus auf der Pastorstraße [jetzt Herrenstraße] vom Kirchhofe [Markt] aus linker Hand) Feuer, welches innerhalb drei Stunden die ganze Oststraße (Ruggestraße), Kirchstraße, Pullort und Lehmwallstraße sowie die Häuser aufm Trippenhof und mehrere Häuser am Kirchhofe in Asche verwandelte.
Die Zahl der abgebrannten Wohnhäuser belief sich auf 105 und die der Nebengebäude, Scheunen und Brennhäuser auf 6. Der Wind blies so heftig, daß in den ersten fünf Minuten bereits sieben Häuser in Flammen standen.“
„Dieses große Brandunglück brachte viel Elend über die betroffenen Familien. Nur das Vieh konnte gerettet werden. Das Mobiliar verbrannte vollständig. Soweit es aus den Flammen gerettet und nach draußen gebracht worden war, fiel es, draußen liegend, der ungeheuren Feuersglut zum Opfer.“

Viele Familien“, fährt der Berichterstatter forrt, „konnten, obwohl alle nicht vom Brand betroffenen Bürger ihren letzten Raum hergaben, in der darauffolgenden Nacht kein Obdach finden. Dazu trat in der Nacht starker Regen ein. Das Geschrey während dem schrecklichen Brande war nicht größer als dasjenige, welches bey eintretender Nacht von den ohne Obdach und ohne die geringste Habe versehenen vielen Unglücklichen, deren Weibern und vielen fast ganz entblößten armen Kindern, die Vater und Mutter nicht finden konnten, von allen Seiten gehört wurde.“
4.) DAS HOCKEMÄNNCHEN

Der Nordwestteil der Stadt wurde nach dem Brand von 1800 nach und nach wiederhergestellt. Ganz in der Nähe baute Emil von Manger, Baumeister des Bischofs von Münster, dann in den Jahren 1870/71 an der Kirchstraße (heute Eickhoff) eine neue Schule. „Ein Prachtbau, mit dem bis dahin kein anderes Gebäude der Stadt sich messen kann“, heißt es in der Chronik.
Die Schule hat in unmittelbarer Nähe zum heutigen Heimathaus am Lehmwall gestanden. Aus dem Prachtbau wurde alsbald eine windige Sache. Denn die Stadt wollte den Baumeister nicht so entlohnen, wie der sich das vorgestellt hatte. „Pup äs, wenn kien Äs häs!“
„Schlecht weht der Wind, der keinen eigenen Vorteil bringt“, weiß Volkes Mund. Flugs eilte von Manger zu Carl Brockmann, dem Oelder Bildhauer jener Tage. Meister Brockmann hat u. a. die Johannes-Figur im Turmportal der Hauptkirche ausgeführt, ebenso die alte Kriegserinnerung an 1866-1871, die am Rand des Hermann-Johenning-Platzes steht. Des Bischofs Baumeister und der Bildhauer bewiesen damals, dass sie im Zusammenwirken zu profanem Schaffen ebenso befähigt waren wie zu erhabener Kirchenkunst.
Weil von Manger also das große Geschäft nicht machen konnte, entstand auf sein Geheiß hin von Brockmanns Hand ein kleines Männchen in der Hocke. Dem ist ein dringend menschlich-windiges Bedürfnis ins Gesicht geschrieben. Der Baumeister, „ein Freund derbsten Humors“, befestigte es hoch oben am Dach der neuen Schule, in der die Stadt später die Töchterschule einrichtete. Auf seinem Rücken trug das Kerlchen einen Schornstein, Zeichen von Qualm und Rauch, Geschwister des Oelder Winds. „Vom Winde lebt niemand“, lautete wohl die Botschaft.
Dieses windige Kerlchen in luftiger Höhe dünkte einigen empfindsamen Seelen denn doch zu deftig. Zart besaitete Seelen behaupteten deshalb gern, von Manger habe nicht die Stadt, sondern einen ungeliebten Nachbarn ärgern wollen. Wem immer die Attacke galt, 1976 wurde der 100-jährige Prachtbau zur Anlegung der Konrad-Adenauer-Allee abgerissen.
Der Hockemann jedoch blieb mit Unterstützung von Stadtdirektor Dr. Schmänk auf wundersame Weise erhalten, verschwand allerdings für Jahre auf dem Oelder Bauhof. Denn niemand hatte eine Idee, wo man den Bengel anbringen könnte? Irgendwohin schaut der Lümmel schließlich immer. Und dennoch: Nach 25-jährigem Dauerschlaf wurde das Männchen mit dem finsteren Gesicht wachgeküsst. Das besorgte der Stadtrat persönlich. Er traf sich eigens zu einer Sondersitzung, die auf Veranlassung des Stadtdirektors einberufen worden war. Sollten die Frauen und Männer doch selbst entscheiden, wohin der Bengel schaute. Dann war er es nicht gewesen.
Zuvor hatte der Heimatverein vorgeschlagen, des Männchen Augen in Richtung Friedhof auszurichten. Denn dort lägen doch alle vereint, die an der Erschaffung des Männchens beteiligt gewesen seien. So geschah es.
5.) EIN SCHLIMMER FALL VON FAHRLÄSSIGKEIT

Fahrlässigkeit hat beim Brand von 1800 gewiss eine Rolle gespielt. Eine ganz andere Fahrlässigkeit passierte jedoch 108 Jahre später. Im Mittelpunkt dieser windigen und anrüchigen Geschichte stand ein Kupferschmied. Joseph Holterdorf, Verleger und Chefredakteur der „Glocke“, hat das Geschehen miterlebt. 1950 hat er „Die Geschichte vom Fahrlässigen Kupferschmied“ mit der Unterzeile „Der einzige Oelder Bürger, der es zur Weltberühmtheit gebracht hat“ in der Heimatzeitung „Die Glocke“ ausführlich ausgebreitet. Die wichtigsten Passagen seines Aufsatzes werden nachfolgend zitiert.
»Am 31. März 1908 war der denkwürdige Tag, der der Oelder Stadtchronik den „fahrlässigen“ Kupferschmied bescherte. Der Amtmann des Amtes Oelde, Bernhard Geischer, schickte dem Kupferschmiedegesellen Hermann Hilger an diesem Tage eine polizeiliche Strafverfügung ins Haus, die da lautete:
‚Sie haben dadurch groben Unfug verübt, daß Sie in der Nacht vom 29. auf den 30. März auf öffentlicher Straße Passanten in absichtlicher Weise durch Darmblähungen belästigten. Ich setze daher gegen Sie gemäß § 360 Abs. 11 RStGB. eine Geldstrafe von 5 Mark fest, an deren Stelle im Unvermögensfalle eine Haftstrafe von 1 Tag tritt.‘
‚Die Glocke‘ brachte zunächst die Strafverfügung im Wortlaut und fügte nur hinzu, der Kupferschmied entschuldige sich mit Fahrlässigkeit. Einige Tage später, nachdem Hilger richterliche Entscheidung beantragt hatte, schrieb die ‚Glocke‘:
‚Hilger behauptet, daß seinerseits nur eine fahrlässige, nicht strafbare Handlung vorliege, und hat deshalb auf richterliche Entscheidung angetragen. Das Königliche Schöffengericht wird also demnächst die Sache zu prüfen haben. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß eine Darmblähung meist ein unverschuldeter Verdauungsvorgang und kein grober Unfug ist. Die Strafverfügung richtet sich aber wohl nicht gegen die Darmblähung des Kupferschmiedegesellen, sondern lediglich gegen eine vermeidbare Begleiterscheinung dieser Blähung. Ohne nun der gerichtlichen Entscheidung vorgreifen zu wollen, möchten wir doch der in verschiedenen Zuschriften an uns geäußerten irrigen Meinung entgegentreten, daß die hörbare Abführung von Darmgasen ein natürliches Bürgerrecht sei, das jedermann zu jeder Zeit und an jedem Orte ausüben dürfe. Ein solcher Vorgang ist zunächst zweifellos unanständig, er kann aber auch unter Umständen als grober, das ästhetische Empfinden des anständigen Publikums verletzender Unfug und sogar als Beleidigung angesehen und zur Bestrafung gebracht werden. Es wird in den meisten dieser Fälle freilich schwerfallen, den zur Bestrafung erforderlichen dolus, die böswillige Absicht, nachzuweisen.‘
Aus der Bemerkung der ‚Glocke‘, daß Hilger sich mit Fahrlässigkeit entschuldige, entstand die Prägung ‚Der fahrlässige Kupferschmied‘. Da der Fall selbst laut ‚Glocke‘ unzweifelhaft „als das bedeutendste Ereignis der Gemeinde Oelde seit ihrer Gründung angesehen werden muß“, brachte die Zeitung den Wortlaut des am 10. Juni 1908 gefällten Urteils mit den Entscheidungsgründen im Wortlaut.
6.) Im Namen des Königs
‚Aktenzeichen: E. 8 08.
Im Namen des Königs!
In der Strafsache gegen den Kupferschmied Hermann Hilger zu Oelde wegen groben Unfugs hat das Königliche Schöffengericht in Oelde in der Sitzung vom 10. Juni 1908, an welcher teilgenommen haben:
Amtsgerichtsrat Wagener als Vorsitzender, August Frhr. v. Nagel-Doornick, Fabrikant Walther Haver als Schöffen, Amtmann Geischer als Beamter der Staatsanwaltschaft, Referendar Biermann als Gerichtsschreiber, für Recht erkannt:
Der Angeklagte ist des groben Unfugs schuldig und wird dieserhalb mit einer Geldstrafe von 5 Mk., im Unvermögensfalle 1 Tag Haft, bestraft, und es werden ihm die Kosten des Verfahrens auferlegt.



Gründe: Der Angeklagte war durch polizeiliche Strafverfügung vom 31. März 1908 mit einer Geldstrafe von 5 Mark belegt worden; weil er in der Nacht vom 29. zum 30. März d. J. gegen 12 Uhr zu Oelde dadurch groben Unfug verübt habe, daß er in der Nähe von Passanten in ganz unverschämter Weise absichtlich Darmblähungen habe abgehen lassen. Gegen diese Strafverfügung hat der Angeklagte auf richterliche Entscheidung angetragen.
Durch die Aussage der Zeugen Polizeisergeanten König und Brink ist festgestellt, daß der Angeklagte mehrere Male, und zwar in unmittelbarer Nähe zuerst von 10 bis 12 vor der Gastwirtschaft ‚Krone‘ stehenden Personen und dann der Zeugen selbst Winde mit Geräusch hat abgehen lassen, und zwar derartig stark, daß es das erste Mal auf 50 Meter Entfernung gehört werden konnte. Dabei hat er auffällige Bewegungen gemacht, indem er jedesmal aufsprang und sich niederduckte. Auch entzündete einer von seinen Begleitern ein Streichholz und ging hinter ihm her, wie um die Gase anzuzünden. Während des Vorganges hat er mit seinen Begleitern laut und auffällig gelacht.“
Fazit: „Es handelt sich im vorliegenden Falle nicht um die einfache Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern es muß in dem ganzen Vorgange ein den Anstand verletzendes, nach außen hin sich zeigendes Verhalten erblickt werden, das das Publikum sich nicht gefallen zu lassen braucht.
Das Gericht hat daher vorsätzlich groben Unfug angenommen und gemäß § 360 Abs. 11 RStGB. auf eine Geldstrafe von 5 Mark, im Unvermögensfalle 1 Tag Haft, erkannt. Die Kosten des Verfahrens werden dem Angeklagten auferlegt gemäß § 497 StPO.
gez. Wagener.‘ «

7.) Beliebig viele Töne, dass sie zu singen scheinen
„Schon die ältesten Völker der Erde waren nicht einig in der Beurteilung des fraglichen Naturvorgangs, und so scheint es bis auf den heutigen Tag geblieben zu sein“, resümierte Joseph Holterdorf 1908 in der ‚Glocke‘. Zu den milden Beurteilern niedergehender Magenrebellionen gehörte u.a.
der hl. Augustinus, der bedeutendste Kirchenvater des Abendlandes. Er schreibt (Civit. Dei 14,24): „Nonnulli ab imo ita numerosos pro arbitrio sonitus edunt, ut cantare videantur“. Das hrißt: „Einige von ihnen geben nach Belieben so viele Töne von sich, daß sie zu singen scheinen.“
8.) DAS NOTGELD VON 1920/21
Noch ist die Geschichte vom Fahrlässigen Kupferschmied nicht zu Ende erzählt. Sechs Jahre später geschah dieses: Mit Beginn des Ersten Weltkriegs setzte 1914 im Deutschen Reich die Ausgabe von Notgeldscheinen ein. Das Horten von Silbermünzen und der Metallbedarf der Kriegsindustrie führten zu Kleingeldmangel. Staatsbanken, Städte, Gemeinden, Kreise und Privatfirmen sprangen in die Bresche und deckten den Bedarf mit eigenen Ausgaben, sogenannten Verkehrsausgaben. Die Oelder Stadtverordnetenversammlung beschloss am 7. Dezember 1920 den Druck von Notgeldscheinen. 100 000 Stück 50-Pfennig-Scheine, je 100 000 Stück mehrfarbige 1-Mark-Scheine und 2-Mark-Scheine mit Aufdruck des Pfingstenkranzes gingen in Druck, zusätzlich 50 000 Stück 10-Pfennig-Münzen als Hartgeld.

Viel Geld hat der Stadt Oelde der Notgeldschein gebracht, der 1921 herausgegeben wurde. Das Bild links zeigt die Vorderseite; rechts ist die Rückseite zu sehen, deren Motiv so originell war, dass der Gutschein abging wie Lutzi.

Am 1. Juli 1921 kam noch eine Serie 5-Mark-Scheine hinzu mit Abbildung der Geschichte vom „Fahrlässigen Kupferschmied“, unterschrieben von Stadtvorsteher Joseph Holterdorf. 1923 gab Oelde erneut Notgeldscheine heraus; astronomisch hohe Werte ergaben unter dem Strich die Summe von über 23 Milliarden Mark (23 327 534 200 MM M). Variantenreich gestaltete Geldscheine mit viel Lokalkolorit erweckten bald das Interesse von Sammlern. Deshalb gelangten viele Notgeldscheine gar nicht erst in Umlauf, sondern wurden gleich für die Sammler gedruckt und ausgegeben. Die anfangs als Notgeld verwendeten Ausgaben entwickelten sich immer mehr zum Spekulationsgeschäft. „Man sollte den günstigen Wind nicht ungenutzt lassen“, riet schon der römische Dichter Vergil.
In der „Glocke“ schildert Joseph Holterdorf das Oelder Geschehen um das Notgeld wie folgt: »Die Stadt Oelde hat mit ihrem, die Geschichte vom ‚Fahrlässigen‘ nach dem Grundsatz ‚Non olet‘ (Geld stinkt nicht) auswertenden Notgeld ein Bombengeschäft gemacht. So wurde aus dem Ertrage dieses Notgeldes u. a. die Oelder Amtsrentei (Grüner Weg 13) gebaut, über deren Portal der ‚fahrlässige‘ Kupferschmied Hermann Hilger in einer Skulptur (Schöpfung des aus Oelde gebürtigen Kunstbildhauers Georg Kemper in München†) verewigt worden ist von der dankbaren Stadt Oelde.
Weiter konnte mit dem Notgeld die ganze Kanalisation der Stadt Oelde (Wert eine halbe Million Goldmark) und der größte Teil der Baukosten der Turnhalle bezahlt werden. Nur mit dem in ganz Deutschland abgesetzten Notgeld – der Volksmund nannte es ‚P…pgeld‘ (übersetzt „Pupgeld“) – war es Oelde in jener Zeit möglich, die relativ höchste Zahl von Wohnungsneubauten im Reg.-Bez. Münster zu errichten, so daß das Oelder Wohnungsamt ohne Beschlagnahme von Wohnraum alle Wohnungsuchenden unterbringen und dabei jeden Arbeitslosen voll beschäftigen konnte.“

9.) Vor dem Staatsgerichtshof wegen des Notgelds verklagt

Joseph Holterdorf berichtet außerdem noch über diese Zeit: „Der Verfasser dieser Zeilen mußte sich am Ende der Inflationszeit als Stadtvorsteher (Ortsbürgermeister) wegen unberechtigter Ausgabe von Notgeld‘ vor dem Staatsgerichtshof verantworten, wand sich aber aus der Schlinge, und das Verfahren wurde eingestellt. Der die Verhandlung leitende Regierungspräsident Dr. Haslinde sprach ihm sogar noch die Anerkennung aus, daß die von ihm vertretene Stadt Oelde das Geld nur zu gemeinnützigen Zwecken angelegt habe, was leider vielerorts nicht geschehen sei.“
Im Übrigen war das Notgeld ungültig, da es nur vom Gemeindevorsteher, aber nicht (nach der Vorschrift der Landgemeindeordnung) vom damaligen Amtsbürgermeister Bernard Geischer unterzeichnet war, der mit der „anrüchigen Geschichte“ nichts zu tun haben und außerdem als Berufsbeamter keine ungesetzliche Handlung begehen wollte.
Die Ausgabe von Notgeld war von einem bestimmten Zeitpunkt an den Gemeinden verboten, weil der Staat, die Provinzen und die Kreise vom „Geschäft“ lieber selber profitieren wollten.
Von der Ungültigkeit des Oelder Notgeldes hat in dem Wirrwarr jener Zeit niemand etwas gemerkt, und darüber ist die Sache verjährt. Jahrelang hat die Stadt Oelde nach dem ‚fahrlässigen Kupferschmied‘ Hermann Hilger in ganz Deutschland gesucht, um sich diesem verdienstvollen Mann erkenntlich zu zeigen, aber Hilger war nicht aufzufinden. Von Oelde aus ist er seines Weges gegangen und hat sich nach Magdeburg gewendet. Eine Straße hat man in Oelde nicht nach ihm benannt, doch seine „fahrlässigen“ Fürze wirken im windigen Oelde immer noch, der Geruch von Oelder Wind demnächst sogar in der Kirche.
10.) „Ganz neu instand gesetzte hochfürstliche Wassermühle“ in Erbpacht
Mehr als 400 Jahre trieb Axtbachwasser, gestaut im Mühlenteich, die Räder einer Mühle an, um Korn zu mahlen. Als es um 1777/78 der fürstbischöflichen Hofkammer nicht gelang, die „ganz neu instand gesetzte hochfürstliche Wassermühle“ in Erbpacht zu vergeben bzw. der Gemeinde zu verpachten, bekam sie Joan David Cramer (frühere Schreibweise von »Kramer«) in Erbpacht. Die Mühle blieb fortan in Pacht der Cramers und ging 1852 in den Besitz der Familie über.


Außer der Wasserkraft nutzte die Familie Kramer auch die Windkraft. Zunächst hatte Bernhard Kramer 1819 eine Bockwindmühle am Klockweg errichtet. Sie wurde 1869 abgebrochen und mit steinernem Unterbau unweit der Wassermühle aufgebaut. Das hölzerne Oberteil brannte im Winter 1870/71 ab. Darauf wurde sie ganz in Stein errichtet, aber bereits zur Jahrhundertwende stillgelegt. Heute erinnert an sie noch der Torso an der Straße Zum Mühlenteich. Gegenüber Kramers Mühle entstand 1904/05 eine Dampfmühle nebst Maschinenraum. Als die Wassermühle um 1930 auf Turbinenantrieb umgestellt worden war, wurde das Dampfmühlengebäude zum Wohnhaus umgebaut, in dem Tonius Kramer nach der Erweiterung und Aufstockung (1954/61) eine Gaststätte einrichtete. Seit 1961 ist die Stadt Oelde Eigentümerin des Mühlengebäudes. 1998 wurde das Wohnhaus abgerissen.
11.) "Siebeneselsmühle"
„Schlecht weht der Wind, der keinen Vorteil bringt“, wusste schon William Shakespeare. Desungeachtet errichteten sieben Oelder Ackerbürger noch vor 1900 am Mühlenweg nördlich der Eisenbahn eine Windmühle. Die Idee entstammte einem Streit, der zwischen Müller Kramer und seiner Kundschaft wegen der für das Mahlen geforderten Preise entstanden war.
Sieben Unternehmer scheuten kein Risiko. Doch die Windmühle konnte sich aufgrund der Konkurrenz durch Kramers Mühlen und Wichmanns Dampfmühle, die mit der Dampfmolkerei Oelde zusammenarbeitete, nicht behaupten und verfehlte ihren Zweck.
Der windige Betrieb der Mühle ‚klappte‘ nicht wie gewünscht, weshalb der Volksmund spottete und der Mühle die despektierliche Bezeichnung ‚Siebeneselsmühle‘ verpasste. –

Kurz erklärt: Eine Dampfmühle ist eine Mühle, die mittels Dampfkraft zumeist von einer Dampfmaschine, seltener auch von einer Dampfturbine angetrieben wird. Im Laufe des 19. Jahrhunderts löste die Dampfkraft die beiden klassischen Antriebsarten für Mühlen, die Wasser- und Windkraft, als dominierende Form ab. Diese Vorteile wogen den Nachteil auf, dass die Antriebsenergie im Gegensatz zu Wind und Wasser nicht kostenlos zur Verfügung stand; der Brennstoff für den Dampfkessel – in der Regel Kohle – musste eingekauft werden. Die Windmühle am Mühlenweg war der Konkurrenz nicht gewachsen und stellte bald ihren Betrieb ein. Sie wurde um 1920 abgebrochen.

An die Oelder Mühlentradition erinnert im Stadtpark nun das Kindermuseum Klipp Klapp, das in Kramers Mühle eingerichtet ist. Wenn nicht Hochwasser gerade einen Strich durch den Besuch macht, lohnt sich – insbesondere für Kinder – der Besuch.

12.) Heftiger Westwind rettet Oelde 1945 vor dem Allerschlimmsten
Am 28. Februar 1945 flogen Flugzeuge über die Stadt und setzten Rauchzeichen. Pfarrer Braukämper beschreibt das Geschehen in der Pfarrchronik von St. Johannes wie folgt: „Am 28. Februar wurden nachmittags von feindlichen Fliegern auf das Gebiet Gröning – Axthausen – Reishege Bomben geworfen. In der Reishege wurde das Haus Heinrich Bachmann zertrümmert. Herr Bachmann, seine Frau, die erwachsene Tochter Anna und der 14-jährige Franz-Josef wurden getötet, außerdem in demselben Hause ein evakuiertes evangelisches Mädchen. – Viele Häuser wurden beschädigt, auch an den Siedlungsbauten der Pastorat, Warendorferstr., wurden viele Scheiben zertrümmert und Dachziegel weggerissen.“
An diesem Nachmittag wehte ein heftiger Westwind, der die Rauchzeichen nach Osten abtrieb. Als die Bomber etwas verspätet ankamen, warfen sie ihre tödliche Fracht größtenteils außerhalb der Stadt ab. Geplant war eigentlich, die Gebäude der Westfalia Separator zu zerstören. Damit wäre die gesamte Stadt in Schutt und Asche gelegt worden. Fünf Tote hat es in dem Haus am Stadtrand gegeben; die gesamte Innenstadt einschließlich der Johanneskirche blieb verschont. Im Gegensatz zu 1805, als Westwind die Glut vor sich her fegte, hat am letzten Tag im Februar 1945 heftiger Westwind die Stadt und ihre Menschen vor dem Allerschlimmsten bewahrt.
13.) Zum Affenfangen in Afrika
Auch die Lange Straße blieb bestehen, und die Zeit schritt voran. Am Anfang der Straße steht seit 1988 eine Skulptur von Regina Liekenbrock, betitelt „Die Schwätzenden.“ Sie mögen sich über die Darmblähung von 1908 unterhalten, hat diese „Untat“ doch unmittelbar dort an der ehemaligen Gastwirtschaft „Zur Krone“ stattgefunden. In diesem Gebäude ist im Anfang vorübergehend die „Glocke“ gedruckt worden. Hier erblickte 1913 Heinrich Wiegard – kurz „Kronen-Heini“ genannt – das Licht der Welt. Und in diesem Haus fand 1936 die Gründungsversammlung des Oelder Heimatvereins statt. Der Kronen-Heini wird 1936 nicht dabei gewesen sein. Denn er lernte in den besten Häusern zwischen Berlin und Mittenwald das Handwerk des Kochs und arbeitete in der Gastronomie. Doch statt ins Hotel nach Oelde zurückzukehren, packte ihn das Fernweh, rief ihn das Meer.
Als Koch und Steward heuerte er 1931 auf der „Bremen“ an, zu ihrer Zeit einer der modernsten Schnelldampfer der Welt, überquerte den Ozean und lernte dabei Max Schmeling kennen. Manche Jahre ist er zur See gefahren. War er wieder einmal unterwegs und der Vater wurde nach dem Verbleib des Sohnes gefragt, gab Heinrich sen. stets zur Antwort: „Er muss wohl zum Affenfangen in Afrika sein.“Der Krieg sah ihn im Einsatz, sein Bruder fiel 1941, seine Mutter wurde von den Nazis inhaftiert. Er selbst sollte sich, weil er respektlose Witze erzählt hatte, vor dem Kriegsgericht in Gdingen verantworten. Da lernte er zufällig den Gerichtsrat Hagedorn aus Biäkem kennen. „Wer bist du denn?“ fragte der ihn. „Wiegard aus Uele“, lautete seine Antwort. „Wie, von Kronen-Käthe?“, fragte der Gerichtsrat erstaunt … und schlug die Sache nieder.
Auf Platt: ‚Biätter in de wiede Welt es in‘n engen Buk‘
„Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ — Aristoteles
Über den Verlauf der Gerichtsverhandlung gegen den „Fahrlässigen“ veröffentlichte die „Glocke“ den folgenden Bericht:
„Man kann den Menschen oft mit einer Kleinigkeit Pläsier machen. Diese Erfahrung machte auch der Kupferschmiedegeselle Hermann Hilger von hier, der Hunderte Millionen von Menschen zum Lachen gebracht und den Ruhm von Oelde in alle Erdteile getragen hat, wie niemals ein Oelder zuvor. … Und was war es für eine Tat, durch die der Geselle eine solche heitere Weltsensation erregt hat? Er hat in der Nacht zum 30. März um 12 Uhr auf der Langen Straße zu Oelde eine Darmblähung nicht mit der in der guten Gesellschaft üblichen Diskretion behandelt. Das ist alles.
Und wegen dieser Indiskretion erhielt Hermann Hilger ein Polizeimandat; er sollte 5 Mark zählen oder 1 Tag brummen. Das kam an die große Glocke, und nun lachten alle Erdteile. Die meisten Leute hielten das Vorgehen unserer Polizei für zu rigoros.“
„Es hat ja freilich zu allen Zeiten“, heißt es weiter, „sogar Leute aus den höchsten Gesellschaftsschichten gegeben, die jene indiskreten Menschlichkeiten sehr milde beurteilten. So erlaubte der römische Dezemvir Appius Claudius in einem von großer Menschenfreundlichkeit zeugenden Edikt allen Römern, selbst in Anwesenheit allerhöchster Staatsbeamter der Natur den Lauf zu lassen. Eine Ansicht, die früher auch von den Stoikern und später sogar von dem feinen Cicero (Famil. IX 22) vertreten worden ist. Die Aegypter verehrten den verrufenen Natursohn so sehr, daß sie seinen Liebling, die Zwiebel, anbeteten.
Auch der weise Salomo pries jene Stimme der Natur, nur hielten sich die Juden sowohl als auch die Mohammedaner für besonders unglücklich, wenn sie von ihr während des Gebetes beschlichen wurden. Die Römer verehrten unter ihren vielen Göttern auch einen Deus crepitus, dessen Sinnbild ein Dreckkäfer war, dem die Natur zur Verteidigung ein wirksames Mittel gab. Damit ist auch unser Oelder Kupferschmied in hohem Grade ausgestattet.“
Adam Olearius (Oelschläger) wird zitiert: „Einer der größten Prosaisten des 17. Jahrhunderts empfahl seinen Zeitgenossen, ‚Wenn will ein böser Bub aus deinem Hause weichen, so halt ihn ja nicht auf, laß ihn nur immer streichen!‘ Dieselbe Mahnung enthält das alte niederdeutsche Sprichwort: ‚Biätter in de wiede Welt, es in’n engen Buk‘, dessen hygienische Wahrheit von Ärzten schon vielfach verteidigt wurde gegen den sog. guten Ton unserer Gesellschaft, der seinen vorlauten Bruder verachtet.“
„Vor kleinen Entgleisungen in dieser Beziehung sollen freilich auch die vornehmsten Herrschaften nicht sicher sein. Viel wert ist es in solchen Fällen, sich mit Geist aus der Affäre zu ziehen. Ein russischer Seeoffizier wurde durch ein Malheurchen, das der Kaiserin Elisabeth bei einer Audienz in Gegenwart zahlreicher Höflinge entschlüpfte, Admiral. Er fiel, sobald er das Unglück wahrnahm, auf die Knie und bat um Verzeihung – die Kaiserin aber nahm ihn nach der Audienz beiseite und sagte zu ihm: ‚Ein Seemann, der einen ungünstigen Wind so gut zu nutzen weiß, verdient es, Admiral zu sein.‘
„Hermann Hilger hat in seiner Sache unleugbar mehr Grobheit als Geist entwickelt. Deshalb ist auch sein Widerspruch gegen das Polizeimandat vom Königl. Schöffengericht verworfen worden. Es bleibt vorläufig bei 5 Mark Geldstrafe, evtl. 1 Tag Haft.“
Die Beweisaufnahme ergab folgendes: „Die Polizeisergeanten König und Brink haben in jener Nacht um 12 Uhr drei von Hilger herrührende, an nächtliche Ruhestörung grenzende Detonationen gehört, die erste, wie sie sofort festgestellt haben, in 50 Meter Entfernung. Dabei sind noch allerlei Allotria getrieben worden.“
„Das in der Nähe sich aufhaltende Publikum, im Ganzen 12 Personen, hat freilich kein Ärgernis an diesen Vorgängen genommen, sondern kräftig dazu gelacht. Wie der Vorsitzende, Amtsgerichtsrat Wagener, in seiner Urteilsbegründung ausführte, hat der Angeklagte zweifellos die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich lenken wollen durch Handlungen, die an und für sich zwar nicht strafbar, aber ungehörig und unästhetisch sind. Die Begleitumstände machten die Sache zu einer Belästigung des Publikums bzw. waren geeignet, die Allgemeinheit zu belästigen, und somit lag grober Unfug vor. Von Rechts wegen.“
„Ein altes niederdeutsches Sprichwort wird zitiert: ‚Biätter in de wiede Welt, es in’n engen Buk.‘ Dessen hygienische Wahrheit wird gern von Ärzten verteidigt gegen den sog. guten Ton unserer Gesellschaft, der seinen vorlauten Bruder verachtet.“
„Vor kleinen Entgleisungen in dieser Beziehung sollen freilich auch die vornehmsten Herrschaften nicht sicher sein. Viel wert ist es in solchen Fällen, sich mit Geist aus der Affäre zu ziehen. Ein russischer Seeoffizier wurde durch ein Malheurchen, das der Kaiserin Elisabeth bei einer Audienz in Gegenwart zahlreicher Höflinge entschlüpfte, Admiral. Er fiel, sobald er das Unglück wahrnahm, auf die Knie und bat um Verzeihung – die Kaiserin aber nahm ihn nach der Audienz beiseite und sagte zu ihm: ‚Ein Seemann, der einen ungünstigen Wind so gut zu nutzen weiß, verdient es, Admiral zu sein.“
„Hermann Hilger hat in seiner Sache unleugbar mehr Grobheit als Geist entwickelt. Und deshalb ist auch sein Widerspruch gegen das Polizeimandat vom Königl. Schöffengericht verworfen worden. Es bleibt vorläufig bei 5 Mark Geldstrafe, evtl. 1 Tag Haft. Die Beweisaufnahme ergab folgendes: Die Polizeisergeanten König und Brink haben in jener Nacht um 12 Uhr drei von Hilger herrührende, an nächtliche Ruhestörung grenzende Detonationen gehört, die erste, wie sie sofort festgestellt haben, in 50 Meter Entfernung. Dabei sind noch allerlei Allotria getrieben worden. Das in der Nähe sich aufhaltende Publikum, im Ganzen 12 Personen, hat freilich kein Ärgernis an diesen Vorgängen genommen, sondern kräftig dazu gelacht.“
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„Wie Amtsgerichtsrat Wagener in seiner Urteilsbegründung ausführte, hat der Angeklagte zweifellos die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich lenken wollen durch Handlungen, die an und für sich zwar nicht strafbar, aber ungehörig und unästhetisch sind. Die Begleitumstände machten die Sache zu einer Belästigung des Publikums bzw. waren geeignet, die Allgemeinheit zu belästigen, und somit lag grober Unfug vor. Von Rechts wegen.
Der „Fahrlässige“ verschwand am Tage vor der Gerichtsverhandlung spurlos aus Oelde. Böse Zungen behaupteten, Geischer habe ihn mit Reisegeld versehen.
Der Amtmann habe befürchtet, daß der (von Ulkbrüdern wirklichbereits genauestens instruierte) „Fahrlässige“ sich in der Gerichtsverhandlung auf so drollige Manier „herausreden“ würde, daß er beim Gerichtsrat, der den Humor mehr liebte als den verknöcherten Amtmann, Freisprechung erreichte. Gerichtsrat Wagener war sehr peinlich berührt von der plötzlichen Flucht des weltberühmten „Delinquenten“.
Er hatte nämlich schon wochenlang vorher (natürlich „ohne präjudizierlich zu sein“) jeden Abend bis in die späte Nacht am Stammtisch der Alten Herren im Hotel Gildemeister (Engbert, Lange Straße) das ja auch schier unerschöpfliche Thema vom „Fahrlässigen“ nach der formal-juristischen und nach der materiellen Seite hin ausgiebig behandelt.
Im Falle eines Freispruchs aber wäre der ohnehin schon große Verdruß Geischers über die von ihm wahrlich nicht geahnte Wirkung seiner Strafverfügung noch erheblich größer geworden.“
Wegen der unterschiedlichen Stellungnahme unserer Leser und Leserinnen zu der Verurteilung des „fahrlässigen“ Kupferschmieds hielten wir uns s. Zt. für verpflichtet, zur weiteren Klärung der auseinandergehenden Ansichten nochmals – wenn auch nicht ganz ohne Bedenken – in die einschlägige Literatur hineinzusteigen. Danach sind Gelehrte, die die Urgeschichte des Menschen studiert haben, der Meinung, daß Adam und Eva vor dem Sündenfall nichts von der irdischen Plage des „niedergedrückten Seufzers“ gewußt haben; erst mit dem fatalen gärenden Apfel sei die Unverdaulichkeit entstanden, die uns nachgehe wie die Erbsünde.
Nebenbei bemerkt: Ohne Adams und Evas Eselei lebten wir bekanntlich noch im Paradiese und hätten nie warmes Bier, verbrannte Brötchen und tote Frikadellen sowie zwei Weltkriege, zwei Inflationen, Finanz- und Wohnungsämter etc. etc. niemals kennergelernt.
Schon die ältesten Völker der Erde waren nicht einig in der Beurteilung des fraglichen Naturvorgangs. Der Verehrung des Deus crepitus (des Gottes der „Pfeifer“, der „Donnerer“ und der „Schleicher“) durch Aegypter und Römer stand gegenüber der tiefe Abscheu, den die Araber vor rückwärts gerichteten Lautsprechern empfanden. Araber, die sich in Gesellschaft in dieser von ihnen für unlauter gehaltenen Art verlautbarten, wurden geächtet und mußten sofort ihre Heimat verlassen, hatten also ebenso zu verduften, wie es der „Fahrlässige“ am Tage vor der Gerichtsverhandlung in Oelde freiwillig tat.
Sagten wir, daß die Ägypter (so wie die Römer) den deus verehrten, so ist dabei wohl zu beachten, daß diese Verehrung einem (zu besänftigendem) Dämon galt, d. h., daß sie nicht in der Liebe zum Gott der Magenwinde wurzelte, sondern in der Furcht vor ihm. Im Aegypten zur Zeit des Tutench-Amon und noch viel, viel später wäre unser „Fahrlässiger“ ohne Zweifel verurteilt worden, und zwar hier wegen Beleidigung der beiden Polizeiexekutivbeamten, die in der Prozeßverhandlung contra Hilger in der Hauptsache als Ohrenzeugen auftraten.
Die Alt-Ägypter benutzten nämlich mit Vorliebe diese Abart der „vox humana“ zur Schmähung ihrer Feinde. Herodot berichtet z.B., daß der Rebell Amasius dem Gesandten des Königs Apries keine andere Antwort gab, als daß er auf seinem Pferde den Schenkel hob und sagte: „Bringe das deinem König“.